Neujahrsvorsätze scheitern nicht, sie überfordern



Zum Jahresanfang tauchen sie zuverlässig auf, die Neujahrsvorsätze. Mehr Sport, weniger Essen, gelassener reagieren, endlich Grenzen setzen, weniger arbeiten, mehr bei sich sein. Für einen kurzen Moment fühlt sich das oft gut an. Wie ein inneres Aufräumen, ein Neubeginn. Und doch erleben viele Menschen nach einigen Wochen ein vertrautes Gefühl von Scheitern, Frustration oder Selbstvorwurf.


Aus psychologischer Sicht ist das kein Zufall.


Die meisten Neujahrsvorsätze setzen auf der obersten Ebene an, beim sichtbaren Verhalten. Sie richten sich an Disziplin, Willenskraft und Kontrolle. Genau dort liegt jedoch selten die eigentliche Ursache. Verhalten ist fast immer das Ergebnis tieferliegender Prozesse, körperlicher Zustände, emotionaler Erfahrungen, alter Beziehungsmuster und erlernter Schutzstrategien. Wenn diese Ebenen unberührt bleiben, reagiert das innere System nicht mit Kooperation, sondern mit Widerstand.


Gleichzeitig ist unser Gehirn kein Veränderungsfan. Es ist in erster Linie ein Vorhersageorgan. Es versucht, die Welt berechenbar zu halten, um Energie zu sparen und Sicherheit zu gewährleisten. Veränderung bedeutet Ungewissheit. Ungewissheit aktiviert das Alarmsystem. Auch dann, wenn die Veränderung objektiv sinnvoll erscheint. Ein Vorsatz wie „ab jetzt mache ich alles anders“ wird neurobiologisch nicht als Motivation gelesen, sondern als potenzielle Gefahr. Das Nervensystem zieht die Handbremse, und das meistens unbemerkt.


Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der häufig übersehen wird. Viele Verhaltensweisen, die wir verändern möchten, hatten einmal eine wichtige Funktion. Essen konnte regulieren, Rückzug konnte schützen, Kontrolle konnte Stabilität schaffen, Anpassung konnte Beziehung sichern. Das Nervensystem erinnert sich daran. Ein Vorsatz, der diese innere Logik ignoriert, fühlt sich für einen Teil in uns wie ein Angriff an. Kein Wunder, dass innere Gegenbewegungen entstehen.


Oft liegt in Neujahrsvorsätzen auch ein stiller Vorwurf. Ich bin nicht diszipliniert genug. Nicht ruhig genug. Nicht konsequent genug. Dieser innere Ton erzeugt Druck. Und Druck aktiviert genau jene Muster, die wir eigentlich hinter uns lassen wollen. Das Scheitern am Vorsatz verstärkt dann den alten Glaubenssatz "mit mir stimmt etwas nicht". Ein Kreislauf, der viel Kraft kostet.


Was wäre eine andere Perspektive?


Vielleicht braucht es weniger Vorsätze und mehr Verständnis. Weniger Ziele und mehr gute Fragen. Nicht die Frage "was muss ich ändern?", sondern,

  • "Was versucht mein System gerade zu schützen?"
  • "Wo ist es überlastet?"
  • "Wo hält es etwas aufrecht, das viel Energie bindet?"
  • "Welche (innere) Sicherheit fehlt, damit Veränderung überhaupt möglich wird?"


Veränderung ist aus psychologischer Sicht kein Willensakt, sondern ein Beziehungsprozess. Beziehung zum eigenen Körper, zu inneren Anteilen, zu alten Erfahrungen. Dort, wo Druck weicht und Kontakt entsteht, kann sich etwas neu organisieren. Nicht abrupt, sondern schrittweise.


Ganz konkret kann das bedeuten, kleine Schritte zu wählen und zwar so, dass das Nervensystem nicht in Widerstand schlägt. Zum Beispiel nicht "ich mache ab jetzt jeden Tag Sport", sondern, ich spüre einmal täglich bewusst in meinen Körper hinein und frage mich, was ihm heute gut tut. Nicht "ich muss gelassener werden", sondern, ich bemerke, wann mein Nervensystem in Alarm geht und gönne mir einen Moment der Regulation, ein tiefer Atemzug, ein Bodenkontakt, ein langsameres Tempo.


Hilfreich ist auch, den inneren Ton zu verändern. Statt Selbstkritik eine innere Haltung von Neugier. "Aha, hier wird es eng." "Aha, hier meldet sich etwas Altes." Das ist kein Rückschritt, sondern Information. Das Nervensystem lernt nicht durch Druck, sondern durch sichere Erfahrungen.


Vielleicht ist der Jahresanfang nicht der Moment für große Vorsätze, sondern für eine neue, leise innere Ausrichtung und die Erlaubnis, langsamer zu werden. Und für die Entscheidung, sich selbst besser zuzuhören. Veränderung darf sich sicher anfühlen. Und sie beginnt oft nicht mit einem neuen Ziel, sondern mit einem milderen Blick auf das, was bereits da ist.

© Veruschka Vollendorf, 30.12.2025