Wenn Begegnungen erschöpfen
Vielleicht kennst du das Gefühl, nach einem Gespräch müde zu sein, leer, innerlich angespannt. Manche Menschen werden dann schnell als Energieräuber bezeichnet, so als würden sie etwas aus uns herausziehen. Wenn wir genauer hinschauen, zeigt sich jedoch oft etwas anderes. Die Erschöpfung entsteht nicht primär durch den anderen Menschen, sondern durch das, was in uns in dieser Verbindung passiert.Und kleiner Spoiler: das ist keine Schwäche, sondern eine alte, sehr sinnvolle Anpassung.
Viele Menschen haben früh gelernt, dass Beziehung nur dann sicher ist, wenn sie aufmerksam, präsent und angepasst sind. Der Blick richtet sich automatisch auf das Gegenüber. Innerlich läuft eine schnelle Orientierung:
- Wie muss ich gerade sein?
- Was darf ich zeigen?
- Was sollte ich lieber zurückhalten, damit Verbindung bestehen bleibt?
Was dabei oft übersehen wird, ist, wie viel innere Arbeit das bedeutet. Denn es geht nicht nur darum, beim anderen zu sein. Es bedeutet auch, die eigenen Impulse, Gefühle, Bedürfnisse und Wahrnehmungen immer wieder zurückzunehmen. Eigene Unsicherheit wird heruntergedrückt, Ärger wird geschluckt und Müdigkeit ignoriert. Ein inneres Nein bekommt keinen Raum. All das passiert nicht bewusst, sondern als erlernte Beziehungsstrategie.
Dieser dauerhafte Außenfokus erlaubt keine Regenerationsphasen. Das Nervensystem bleibt im ständigen Kontakt, ohne zwischendurch zu sich zurückkehren zu dürfen. Nähe wird nicht als verlässlich und sicher erlebt, sondern als etwas, das gehalten, gesichert oder stabilisiert werden musste.
In solchen Momenten geht es innerlich weniger um Austausch, sondern mehr um Bindungssicherung. Und genau das kostet Kraft. Nicht, weil Beziehung anstrengend ist, sondern weil man sich selbst dabei immer wieder ein Stück verlässt.
Warum Grenzen sich gefährlich anfühlen können
Grenzen werden in solchen Bindungsmustern nicht als Schutz erlebt, sondern als Risiko. Unbewusst entsteht die Sorge "wenn ich mich abgrenze, verliere ich Verbindung". Das Nervensystem kennt Nähe nur über Anpassung. Also bleibt man verfügbar, auch wenn es anstrengend wird. Man hört zu, trägt mit, reguliert mit. Nicht aus Naivität, sondern aus einer tief verankerten Bindungserfahrung.
Erschöpfung entsteht hier nicht durch den anderen Menschen. Sie entsteht dadurch, dass man sich verbiegt, sich anpasst und die eigenen Grenzen nicht wahrt. Dadurch, dass man dem anderen erlaubt, über die inneren Grenzen zu gehen, während die eigenen Gefühle gleichzeitig weggedrückt werden.
➡️ Das kostet doppelt Energie. Einmal, weil keine Grenze schützt. Und zusätzlich, weil das innere Erleben keinen Platz haben darf.
Es geht also weniger darum, sich vor bestimmten Menschen zu schützen. Es geht darum, die eigene automatische Co Regulation zu erkennen, d.h. zu erkennen, dass man permanent das Gegenüber stabilisiert. Menschen mit stabiler Bindung erleben dieselben Situationen oft ganz anders. Nicht, weil sie härter sind, sondern weil ihr Nervensystem nicht automatisch Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht des anderen übernimmt.
Was dabei im Nervensystem passiert
Unser Gehirn ist ein Vorhersageorgan. Es möchte wissen, ob eine Situation sicher ist. Wenn emotionale Sicherheit früher nicht konstant vorhanden war, bleibt das Nervensystem auch heute aufmerksam. Es scannt unbewusst
- Stimmung
- Mimik
- Tonfall
- kleine Veränderungen im Gegenüber
Hinzu kommt oft die Angst, jemanden zu enttäuschen, Schuld auszulösen oder Verbindung zu gefährden. Auch das aktiviert alte Bindungsängste, selbst wenn die Situation im Hier und Jetzt eigentlich harmlos ist.
Neurobiologisch bedeutet das eine erhöhte Aktivierung des autonomen Nervensystems. Der Körper bleibt in einer leichten, aber dauerhaften Alarmbereitschaft. Nicht, weil etwas Schlimmes passiert, sondern weil Verbindung innerlich mit Unsicherheit verknüpft ist. Gleichzeitig arbeitet der präfrontale Kortex auf Hochtouren. Er reguliert, gleicht aus, denkt mit, hält den Kontakt. Das fühlt sich später oft an wie Energieverlust, obwohl es eigentlich Dauerregulation ist.
Kleine Schritte, die etwas verändern können
1. Den eigenen Fokus bemerken
Frage dich in Gesprächen zwischendurch "bin ich gerade bei mir oder ganz beim anderen?"
Allein dieses Wahrnehmen kann das Nervensystem bereits entlasten, weil es wieder Orientierung schafft.
2. Mikro Pausen nutzen, um dich zu spüren
Du musst nicht immer sofort reagieren oder antworten. Ein Atemzug, ein kurzes Innehalten kann reichen.
Hilfreiche innere Fragen können dabei sein:
- Wie fühle ich mich gerade?
- Was brauche ich jetzt?
- Wie würde ich eigentlich gerne reagieren?
Es geht nicht darum, sofort etwas zu verändern, sondern darum, dich selbst wieder mitzunehmen.
3. Den Körper als Anker nutzen
Im Bindungskontext wirken weniger Gedanken, sondern körperliche Signale, z.B. beide Füße bewusst auf dem Boden spüren, den Atem langsam verlängern oder die Schultern minimal sinken lassen.
Das sind kleine Signale an dein Nervensystem
Ich bin hier
Ich bin sicher
Ich darf mich spüren
4. Grenzen in Mini-Schritten erfahrbar machen
Wenn Grenzen früher als gefährlich erlebt wurden, braucht es Sicherheit im Kleinen. Ein erster Schritt kann sein:
- etwas später antworten (vor allem hilfreich bei WhatsApp-Nachrichten) oder sich Zeit verschaffen "darüber muss ich erstmal nachdenken"
- ein Thema nicht weiter vertiefen
- innerlich Nein sagen, ohne es auszusprechen
Auch das ist bereits Selbstschutz. Dein Nervensystem lernt dabei, dass Verbindung nicht sofort verloren geht, wenn du dich innerlich abgrenzt.
5. Nach dem Kontakt regulieren
Bewegung, frische Luft, langsames Atmen, bewusstes Spüren des Körpers. Nicht als Selbstoptimierung, sondern als Rückkehr zu dir. So kann dein System wieder herunterfahren.
Zum Schluss
Wenn dich Begegnungen erschöpfen, sagt das nichts über deine Belastbarkeit. Es sagt etwas über dein Bindungssystem und darüber, was du gelernt hast, wie du sein musst, um in Verbindung bleiben zu können. Veränderung entsteht nicht durch Druck, sondern durch neue Erfahrungen. In kleinen Schritten. Mit Menschen, die es dir leicht machen. In Situationen, in denen du dich zeigen darfst, ohne dich zu verlieren.
So lernt dein Nervensystem nach und nach: Nähe darf sich ruhig anfühlen, Grenzen gefährden Verbindung nicht und ich darf bei mir bleiben, auch im Kontakt.
Nicht auf einmal.
Sondern Schritt für Schritt.
© Veruschka Vollendorf, 16.12.2025

