Emotionsregulation: Der Weg zu innerer Stabilität


Gefühle sind keine Störung, sie sind ein inneres Navigationssystem. Sie zeigen uns, was uns wichtig ist, wo unsere Grenzen liegen, was uns bedroht, was uns erfüllt, was uns berührt. Ohne sie könnten wir keine Beziehungen eingehen, keine Verbindung spüren, keine Richtung im Leben erkennen. Gefühle sind also keine Schwäche, sondern ein biologisches Feedback-System, das uns durchs Leben führt, sehr menschlich, sehr weise, manchmal nur etwas laut. Die Fähigkeit, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu sortieren und zu beruhigen, gehört deswegen zu den zentralsten Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes und verbundenes Leben. Sie beeinflusst, wie wir Entscheidungen treffen, wie wir kommunizieren und auch, wie sicher wir uns in Beziehungen fühlen. Denn Entscheidungen, die wir treffen, wenn wir tief in Angst, Verzweiflung oder auch großer Euphorie stecken, unterscheiden sich deutlich von denen, die wir aus emotionaler Klarheit und innerer Stabilität heraus treffen. Emotionsregulation bedeutet nicht, Gefühle wegzumachen. Sie bedeutet, in Kontakt zu bleiben, auch wenn es innerlich stürmisch wird.


Viele Menschen glauben, man müsse „einfach erwachsen sein“, um Emotionen steuern zu können. Aber so funktioniert unser Nervensystem nicht.


Wie Emotionsregulation entsteht – und warum wir sie nicht „einfach können“


Regulation entsteht nicht durch Willenskraft, sondern durch Entwicklung. Ein Säugling kann starke Emotionen nicht selbst verarbeiten – biologisch unmöglich. Das Gehirn, insbesondere der präfrontale Cortex, ist noch nicht reif genug, um Erregungszustände herunterzufahren. Dieser Bereich, der später für Impulskontrolle, Perspektivwechsel und Emotionssteuerung zuständig ist, reift erst zwischen dem 17. und 24. Lebensjahr vollständig aus. 


Was das Kind in dieser unfertigen Phase braucht, ist Co-Regulation:

  • gehalten werden,
  • beruhigt werden,
  • gespiegelt werden,
  • verstanden werden.


Durch die wiederholte Erfahrung, dass jemand da ist und das innere Chaos beruhigt, entsteht im Körper ein Gefühl von „Ich bin sicher. Gefühle sind in Ordnung. Ich muss das nicht alleine schaffen.“

Diese Erfahrungen formen ein frühes Emotionswissen: Wie Gefühle entstehen, wie sie aussehen, und dass sie sich wieder verändern können.

Kurz: Kinder lernen Regulation nicht über Worte, sondern über das Nervensystem des Gegenübers. 


Was passiert, wenn Co-Regulation fehlt?


Fehlt einem Kind die frühe emotionale Resonanz, weil Bezugspersonen überfordert, unvorhersehbar, emotional abwesend oder selbst dysreguliert waren, bleibt das junge Nervensystem mit seinen Gefühlen zu oft allein. Und ein Kind muss dann Lösungen finden, um innerlich zu überleben. Diese Lösungen sind Schutzstrategien. Sie sind nicht bewusst gewählt, sie entstehen, weil das Nervensystem keinen anderen Weg kennt. Und sie wirken bis ins Erwachsenenalter nach. 

👉  Orientierung am Außen: "sag mir, wer ich bin"


Das Nervensystem sucht Halt dort, wo früher keiner war: im Außen. In anderen Menschen, in Bestätigung, in Anerkennung.


Typisch sind:

  • ausgeprägte Anpassung
  • Angst, jemanden zu enttäuschen
  • Schwierigkeiten, Nein zu sagen
  • innere Leere, wenn kein Feedback kommt
  • das Gefühl, nur durch Leistung genug zu sein
  • ständiges Überprüfen: „Ist alles okay zwischen uns?“


Anerkennung kann dann wie ein kurzer beruhigender Schub wirken – aber er hält nicht, weil echte Stabilität nicht von innen kommt.


👉 Rückzug und scheinbare Unabhängigkeit


Andere Menschen wirken eher bedrohlich als unterstützend. Nähe wurde vielleicht nie als sicher erlebt, also wird sie gemieden.


Typisch sind:

  • starkes Funktionieren statt Fühlen
  • Distanz in Beziehungen
  • Schwierigkeiten, Nähe auszuhalten
  • das Bedürfnis, alles allein zu regeln
  • innerer Druck, immer stark sein zu müssen
  • der Reflex, sich beim kleinsten Konflikt zurückzuziehen 


Von außen wirkt das stabil, innerlich ist es oft ein angespanntes, überfordertes System.


👉 Dissoziation & Über-Kontrolle: „Ich schalte mich ab, um zu überleben.“


Das ist das dritte Muster und es kann in beiden Richtungen auftreten.

Wenn Gefühle zu beängstigend oder überwältigend waren und niemand da war, um sie zu halten, wählt der Körper einen uralten Mechanismus: Abschalten.


Dissoziation kann so aussehen:

  • Gefühle wie „weg“ oder gedämpft
  • man spürt den eigenen Körper schlecht
  • alles wirkt wie durch Watte
  • später: sehr stark im Kopf, wenig im Körper
  • Probleme werden rational gelöst, nicht emotional verarbeitet
  • Nähe oder Verletzlichkeit fühlt sich „zu viel“ an


Rationalisierung ist dann eine Form der Selbstberuhigung: Wenn ich es verstehen kann, muss ich es nicht fühlen.


Was all diese Muster gemeinsam haben


Ob du dich eher im Außen verlierst, dich zurückziehst oder manchmal innerlich wie „abgeschaltet“ wirkst – all diese Reaktionen haben denselben Ursprung: Ein Nervensystem, das in frühen Jahren zu oft allein mit zu viel war.

Dissoziation, Rationalisierung, Überanpassung oder Rückzug sind keine Charakterzüge, keine Schwäche und auch kein persönliches Versagen. Es sind biologische Schutzprogramme, die dich damals vor Überforderung bewahrt haben.

Vielleicht war niemand da, der dich gehalten hat.

Vielleicht war jemand da, aber unberechenbar, abwesend oder selbst überfordert.

Vielleicht gab es zu viel Nähe. Vielleicht viel zu wenig.


Dein System hat das intelligenteste getan, was es konnte: Es hat Wege gefunden, dich zu schützen.

Doch: Was dir als Kind geholfen hat, steht dir als Erwachsene oft im Weg. Und genau dort beginnt der nächste Schritt.


Die gute Nachricht: Emotionsregulation ist nachlernbar


Das Nervensystem bleibt ein Leben lang plastisch. Auch wenn wir in der Kindheit keine sichere Co-Regulation erfahren haben, können wir diese Fähigkeit später entwickeln.


Das Neulernen geschieht über zwei Wege:


1. Durch sichere, stabile Beziehungen


Partner*innen, Freund*innen oder therapeutische Bezugspersonen (letztere zumindest übergangsweise) können heute das bieten, was früher gefehlt hat:

  • Präsenz
  • Resonanz
  • Validierung
  • Stabilität


Co-Regulation im Erwachsenenalter wirkt wie ein zweites emotionales Aufwachsen. Unser Nervensystem lernt:

„Ich bin okay, so wie ich bin. Meine Gefühle sind nicht zu viel. Ich werde gehalten.“


2. Durch Selbstregulation – die innere Nachreifung


Selbstregulation bedeutet, bei sich zu bleiben, auch wenn die Gefühle intensiv sind.

Sie beinhaltet:

  • Gefühle wahrnehmen
  • Atem und Körper beruhigen
  • Impulse sortieren
  • Grenzen erkennen
  • Tempo reduzieren
  • innehalten statt reagieren 


Selbstregulation ist eine Reifekompetenz, Co-Regulation eine Beziehungskompetenz – beides zusammen schafft Bindungsfähigkeit. 


Wie sich Emotionsregulation im Alltag zeigt


Hier ein Beispiel, wie ich es oft Klientinnen erkläre:

"Du bekommst eine Nachricht, die dich verletzt. Dein Körper wird heiß, der Puls schneller. Früher wärst du vielleicht sofort zurückgeschrieben – oder dicht gemacht.
Heute merkst du: „Ich bin gerade getriggert bzw. da passiert gerade etwas in mir.“ Du atmest, spürst deinen Körper, ordnest deine Gefühle - und antwortest erst, wenn du wieder bei dir bist."


Das Ziel ist nicht, nie mehr emotional zu reagieren. Sondern rechtzeitig zu bemerken, dass du reagierst und dir dann innerlich Halt zu geben.


Konkrete Schritte, um Emotionsregulation zu stärken


1. Körperwahrnehmung statt Gedankenspirale

Gefühle beruhigen sich über den Körper, nicht über Analyse:

  • drei tiefe Atemzüge
  • Schultern bewusst senken
  • warme Hand auf die Brust
  • Füße spüren


2. Innehalten statt sofort reagieren

Zwischen Reiz und Reaktion entsteht ein Mini-Moment. Dieser Moment ist Regulation.


3. Gefühle benennen

„Ich bin wütend“, „Ich bin überfordert“, „Ich bin verletzt.“ Das Gehirn reduziert damit automatisch die Erregung.


4. Co-Regulation zulassen

Sich von einem Menschen halten, trösten oder spiegeln zu lassen, ist kein Zeichen von Schwäche, es ist ein Nachreifen dessen, was früher vielleicht gefehlt hat (und für manche Menschen durchaus schwer, das zuzulassen).


5. Tempo rausnehmen

Sowohl im Alltag als auch im Inneren. Weniger Reize & weniger Stress = mehr Kapazität zur Regulation.


6. Differenzierung üben

„Ich bin ich, auch wenn du emotional wirst.“ Regulation ermöglicht erst diese innere Festigkeit. 


Ein entlastender Gedanke


Wenn Regulation dir schwerfällt, bedeutet das nicht, dass du „zu emotional“ bist oder „nicht belastbar“. Es bedeutet, dass du in deiner frühen Geschichte zu oft allein mit zu viel warst. Dass du überfordert warst mit deinen Emotionen, die du noch nicht selber regulieren konntest.

Du reagierst nicht „zu intensiv“.

Du reagierst biologisch angemessen auf das, was dein Nervensystem gelernt hat.


Und du kannst neu lernen.


Fazit: Emotionsregulation ist Beziehung und Reifung zugleich


Innere Stabilität wächst, wenn zwei Dinge zusammenkommen:

Selbstregulation:  die Fähigkeit, den eigenen inneren Zustand zu halten.

Co-Regulation:  die Erfahrung, dass wir damit nicht allein sind.

„Ich kann mich halten und ich darf mich halten lassen.“

In diesem Zusammenspiel entsteht das, was viele Menschen in Beziehungen suchen: innerer Frieden, Klarheit und die Fähigkeit, präsent und in Verbindung zu bleiben - mit sich selbst und mit anderen.

© Veruschka Vollendorf, 09.12.2025